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Aus den Memoiren von D. Hucke: Das Londoner Urteil

Auszug mit freundlicher Genehmigung des Verlages

In die Übersetzerabteilung von Zeiss Jena kam ich, 26-jährig, im Jahre 1965. Ich fand Bedingungen vor, von denen heutzutage ein Absolvent nur träumen kann: Ein äußerst vielseitiges Arbeitspensum, das mich zwang, täglich dazuzulernen, und alle Möglichkeiten, dieser Notwendigkeit zu entsprechen. Es gab eine umfangreiche Fachbibliothek mit Büchern und Zeitschriften auch aus englischsprachigen Ländern, und man hatte auch Zeit genug, sich einmal einen halben Tag im Lesesaal aufzuhalten, um sich die notwendigen fachlichen und fachsprachlichen Kenntnisse zusammenzusuchen, wenn man wieder einmal mit einem ganz neuen Thema konfrontiert war. Und man bekam Rat und Hilfe von erfahrenen "alten Hasen", darunter  Dr. Werner Bindmann, Autor mehrerer hervorragender Fachwörterbücher, oder Walter Hauser, der die Feinheiten des kommerziellen und juristischen Englisch als junger Kaufmann in Amerika gelernt hatte und seinen Ehrgeiz daran setzte, aus jedem kleinen Geschäftsbrief ein stilistisches Meisterstück zu machen. Er wurde mir für die erste Zeit als Mentor zugeteilt, und ich bin ihm heute noch dankbar für die Sorgfalt, die er mir beim Umgang mit dem Wort anerzog.

Walter Hauser leitete auch eines der ersten brisanteren Übersetzungsprojekte, mit denen ich zusammen mit allen Englischübersetzern der Abteilung konfrontiert war. Im Mai 1965 hatte das britische House of Lords als letzte Instanz entschieden, daß die Jenaer Carl-Zeiss-Stiftung rechtmäßig durch den Rat des Bezirkes Gera vertreten und somit in Großbritannien prozeßfähig sei. (Dies führte in der Folge dazu, daß Zeiss Jena in den meisten Ländern der westlichen Welt seine Erzeugnisse unter dem Namen "Carl Zeiss Jena" verkaufen durfte.) Nun mußten in einer Hau-Ruck-Aktion über das Wochenende Hunderte von Seiten mit den Plädoyers der britischen Lords ins Deutsche übersetzt werden. Was mir damals besonders auffiel, war, daß das Urteil der Lords zwar der Sache nach für den VEB Carl Zeiss Jena günstig ausfiel, aber auf Argumentationen basierte, die für die DDR politisch alles andere als schmeichelhaft waren. Man stellte fest, die Regierung Ihrer Britischen Majestät erkenne zwar die Regierung der DDR nicht an, wohl aber die Regierung der UdSSR, und da die Regierung der DDR ein Organ der sowjetischen Regierung sei, seien auch die Gesetze und Organe der DDR - darunter auch der als Stiftungsverwaltung fungierende Rat des Bezirkes Gera - von der sowjetischen Oberhoheit abzuleiten und somit rechtmäßig. Kein Wunder, daß diese Begründungen in Jena und in der DDR nicht an die Öffentlichkeit gelangten, während der daraus resultierende Beschluß als Erfolg gewürdigt wurde.

Erschienen in:
Hans G. Beck (Hrsg.): Menschen bei Zeiss und Schott. Sammlung des Seniorenclubs Schott Zeiss Jena e.V., Jena 2002.
Bestelldaten und eine Kurzvita von Dietrich Hucke finden Sie hier.


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